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Viernheim (M.Baaß) – Schriftsteller Walter Kempowski hat im viel beachteten kollektiven Tagebuch „Echolot“ das persönliche Erleben des 2. Weltkrieges aus ganz unterschiedlichen Perspektiven von Personen abgebildet. Ich möchte Sie zu Beginn daran Anteil haben lassen:

Sonntag, 22. Juni 1941

Der Oberstabsarzt Dr. Willi Lindenbach † 1974, Gummersbach

Herrlicher Sonnenschein. […] Um 8 Uhr hörten wir im Radio, dass Deutschland Russland den Krieg erklärt hat und dass seit heute Morgen 5.03 Uhr die Kriegshandlungen begonnen haben. Wir sind alle ganz niedergeschlagen. Hitler ist ein Wahnsinniger! Was soll nur werden?

Donnerstag, 26. Juni 1941

Der Leutnant Walter Melchinger 1908–1943, Ukraine

Vorgestern um 17 Uhr haben wir die Grenze überschritten. Seither sind wir in Gewaltmärschen hinter der Front her, von der wir so gut wie nichts wissen. […] Was wir von den Straßen aus sehen, sind unendliche Kornfelder. Die werden nun uns gehören.

Bald ist die Ernte. Nahrungssorgen kann es in diesem Krieg nicht mehr geben. So musste es kommen. Was keiner von uns für möglich hielt, hat unsere unwahrscheinlich große Politik nun möglich gemacht. […] an den Straßen [standen] die ersten Heldengräber, einfache Kreuze mit dem Stahlhelm drauf. Ihr Anblick hat mich nur bestärkt in dem mächtigen Drang zur Front. […]“

Freitag, 27. Juni 1941

Der Gefreite Reinhold Pabel * 1915, im Osten

Gestern wieder einen guten Kameraden verloren […]. Der Krieg ist anders als in jedem Buch […]. Wie man am Dasein hängt, am einfachen, bloßen, nackten Da-Sein-Dürfen, wenn man es entrinnen sieht wie Wasser zwischen den Fingern.

Montag, 7. Juli 1941

Elena Awdejewa * 1929, Gebiet Pskow/Russland

[…] So saßen wir in unserem Haus und hörten auf einmal Motorräder auf unserer Straße. Das waren die Deutschen. Sie waren ganz anders als unsere unrasierten und erschöpften Rotarmisten bei ihrem Rückzug […]. Die Deutschen waren selbstsicher, sauber und ostentativ diszipliniert. […]

Einige Stunden später kamen die Deutschen schon mit einem großen LKW. Sie gingen von Haus zu Haus und nahmen alles weg: Hühner, Eier, Schweine, Gänse und andere Vorräte aus den Kellern.

Der Soldat Jakov Diorditza

1920 – 2000,  Sowjetunion

Nie werde ich diese unendlichen Kolonnen von Kriegsgefangenen auf den staubigen Wegen Russlands unter der heißen Sonne vergessen. Viele von uns waren verwundet, die Wächter erschossen diejenigen, die nicht mehr mit-marschieren konnten. […] Man warf dann die Leichen in einen Graben am Straßenrand und bedeckte sie mit Erde. Die Angehörigen würden nie erfahren, wo ihr Vater, Sohn oder Bruder begraben wurde, um ihn zu beweinen. […]

Vor 80 Jahren, wurde der 1939 von Deutschland begonnene Krieg zum Weltkrieg. Noch vor dem Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 erfolgte im Mai die Besetzung Griechenlands und Jugoslawiens und im Dezember desselben Jahres erklärte das Deutsche Reich den USA den Krieg.

Sophie Scholls 100. Geburtstag wäre in diesem Jahr gewesen. Tatsächlich fiel sie als Mitglied der Widerstandstruppe Weiße Rose mit 21 Jahren dem Fallbeil der nationalsozialistischen Terrorjustiz zum Opfer, nicht als Einzige.

Anders als andere europäische Kriege strebte der Zweite Weltkrieg von deutscher Seite nicht nur den Sieg über das gegnerische Militär, sondern die Vernichtung und Versklavung ganzer Völker an. Der Tod und das Elend der Zivilbevölkerung in den angegriffenen Gebieten waren ein erklärtes Kriegsziel.

60 bis 70 Millionen Menschen sind durch den Zweiten Weltkrieg zu Tode gekommen. Viele weitere Millionen Menschen verloren ihre Gesundheit, ihre Angehörigen, ihre Heimat oder ihren Lebensmut – oder sie mussten bis zu zehn Jahre in Kriegsgefangenschaft aushalten.

Wolfgang Schneiderhan, Präsident des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge hat recht, wenn er formuliert:

„Man kann das Gedenken, dem der Volkstrauertag dient, daher nicht auf die gefallenen Soldaten und schon gar nicht auf die gefallenen deutschen Soldaten reduzieren.

Es ist keine Floskel, wenn wir an diesem Tag aller Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft gedenken. Wir gedenken der gefallenen Soldaten aller Länder, der Juden, Sinti, Roma und anderer verfolgter Minderheiten, der physisch und psychisch Geschundenen und auch der Kriegsgefangenen. Von den mehr als fünf Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen in deutscher Gewalt haben drei Millionen den Krieg nicht überlebt.

Wir können das Geschehene nicht rückgängig machen und wir können es auch nicht ignorieren, relativieren oder umdeuten. Der einzige Weg, der uns bleibt, ist, dafür einzutreten, dass sich Krieg und Diktatur nicht wiederholen können. Dass uns die europäischen Nachbarn und ehemaligen Kriegsgegner die Hand der Versöhnung gereicht haben, ist ein wertvolles Geschenk, das es zu bewahren gilt.“

Auch deswegen werden wir als Stadt Viernheim weiterhin unsere Städtepartnerschaften pflegen. Wir werden unseren Weg, unseren Beitrag dazu weiter leisten, ich finde es ist unsere Pflicht.

Auch weil die Sprache der Verachtung und des Hasses, der Abgrenzung gegenüber dem Anderen trotz aller schlimmer Erfahrungen mit dem Krieg und seinen Folgen keineswegs verstummt. Der Hass in den elektronischen Netzwerken ist grässlich. Der Populismus mancher europäischen Regierungen abstoßend.

„Kämpfen wir tatsächlich gegen Windmühlen?“ fragt der Journalist Martin Pollack. Er schreibt weiter: „Manchmal könnte man das fast meinen. Doch Pessimismus und Resignation sind keine guten Ratgeber. Wir dürfen nicht verzagen und müssen alle unsere Kräfte aufbieten, um uns dem Vergessen und Verdrängen entgegenzustemmen und auf diese Weise die liberale Demokratie vor Schaden zu bewahren. Wenn wir an den Krieg denken, dann haben wir immer auch die Demokratie vor Augen. Denn sie ist der wichtigste Schutz gegen solche Entwicklungen, und sie gehört, folgerichtig, auch zu den ersten Opfern autoritärer Machtansprüche. In einer funktionierenden Demokratie können sich diese aber nie durchsetzen“.

Unser Gedenken an den Krieg und seine Opfer ist stets verbunden mit dem Kampf um die Demokratie. Die Vergangenheit hat uns gelehrt, wie schnell es geht, die Demokratie für obsolet zu erklären und am Ende ganz abzuschaffen.

Das werden wir nie zulassen!

Totengedenken in neuer Fassung

Wir denken heute an die Opfer von Gewalt und Krieg, an Kinder, Frauen und Männer aller Völker.

Wir gedenken der Soldaten, die in den Weltkriegen starben, der Menschen, die durch Kriegshandlungen oder danach in Gefangenschaft, als Vertriebene und Flüchtlinge ihr Leben verloren.

Wir gedenken derer, die verfolgt und getötet wurden, weil sie einem anderen Volk angehörten, einer anderen Rasse zugerechnet wurden, Teil einer Minderheit waren oder deren Leben wegen einer Krankheit oder Behinderung als lebensunwert bezeichnet wurde.

Wir gedenken derer, die ums Leben kamen, weil sie Widerstand gegen Gewaltherrschaft geleistet haben, und derer, die den Tod fanden, weil sie an ihrer Überzeugung oder an ihrem Glauben festhielten.

Wir trauern um die Opfer der Kriege und Bürgerkriege unserer Tage, um die Opfer von Terrorismus und politischer Verfolgung, um die Bundeswehrsoldaten und anderen Einsatzkräfte, die im Auslandseinsatz ihr Leben verloren.

Wir gedenken heute auch derer, die bei uns durch Hass und Gewalt Opfer geworden sind.

Wir gedenken der Opfer von Terrorismus und Extremismus, Antisemitismus und Rassismus in unserem Land.

Wir trauern mit allen, die Leid tragen um die Toten und teilen ihren Schmerz.

Aber unser Leben steht im Zeichen der Hoffnung auf Versöhnung unter den Menschen und Völkern, und unsere Verantwortung gilt dem Frieden unter den Menschen zu Hause und in der ganzen Welt.

Das Sprechen des Totengedenkens durch den Bundespräsidenten wird 1952 von Theodor Heuss eingeführt. Der Text erfährt im Laufe der Zeit mehrfach Anpassungen. Zuletzt ändert Amtsnachfolger Frank-Walter Steinmeier 2020 den Text in Reaktion auf die terroristischen, antisemitischen und rassistischen Gewaltakte der jüngeren Zeit, um an deren Opfer explizit zu erinnern. 2021 wird diese neue Fassung erstmals bei allen größeren oder kleineren Gedenkveranstaltungen übernommen.