Das neue Rathaus: eine Geschichte um verpasste Chancen

 

Es ist ruhig geworden um die Rathausfrage, alle Parteien sind sich einig, Opposition ist nicht in Sicht. Aber Einigkeit heißt nicht automatisch, dass sich Mehrheiten nicht doch auch für Milchmädchenrechnungen begeistern lassen. Eine Geschichte um verpasste Chancen.

 

  1. Energiestandard: Das Haus ist heute energietechnisch im Grunde schon veraltet. Wer heute nachhaltig baut, baut energiesparender. Die Heizenergie ist das eine, die verwendeten Baustoffe das andere. Stahl, Beton und Glas sind die Baustoffe, deren Verwendung man eigentlich verringert, wenn man nachhaltig sein will. Sie erfordern zu viel CO2 in der Produktion.
  2. Preis: Die Verantwortlichen freuen sich, dass man nun ein Rathaus für die Hälfte dessen bekommt, was die letzten Jahrzehnte veranschlagt war. Mit knapp 8 Mio kostet das neue Rathaus somit rund 3400 Euro pro Quadratmeter. Wenn man die großen Bauträger fragt, was denn so ein Rathaus wohl kostet, werden die 3400 Euro genannt. Als mittlerer Preis einer Preisspanne. So wie der Viernheimer Unternehmers Gutperle, der der Stadt ein Rathaus pauschal für 15 Millionen Euro bauen wollte. Das ist zwar rund doppelt so teuer, war aber eben auch doppelt so groß. Er orientierte sich dabei an den Bedarfsanalysen der Vorjahre.
  3. Fläche: Das neue Rathaus ist nur halb so groß, wie das, was die letzten 20 Jahre geplant wurde. Wenn man nun weniger Platz braucht, ist das natürlich super. Die Frage ist aber, ist der plötzliche Sinneswandel wirklich durchdacht? Was ist die zwei letzten Jahrzehnte schiefgelaufen? Der Platzbedarf ist tatsächlich schon heute größer, denn es haben nicht alle Mitarbeiter im neuen Rathaus Platz. Für den Rest werden noch anzumietende Flächen gesucht. Abgesehen davon will man das alte Rathaus noch nutzen. Wir haben dann also sogar zwei Rathäuser – ob zum Preis von einem, zwei oder gar mehr Rathäusern wird die Zukunft weisen. Denn Heizung, Unterhalt und den Verdienst des Vermieters kosten alle.
  4. Misswirtschaft und Nachhaltigkeit: Über die Anforderungen hat man zwei Jahrzehnte nachgedacht. Es ist aber nicht nur die Fläche, die plötzlich aus unerfindlichen Gründen keine Rolle mehr spielt. Ursprünglich sollten auch mal alle MA der Stadt an einem Ort sitzen und viele weitere Dinge waren wichtig. Die zahlreichen Gutachten von Experten sowie ein Bürgergutachten lassen grüßen. Alles, was hier für viel Geld erarbeitet wurde, ist offenbar letztendlich keinen Cent wert gewesen, wenn man nun hopplahopp ganz anders entscheidet. Die große Frage ist: Hat die Politik die letzten 20 Jahre das Geld zum Fenster rausgeschmissen oder fangen sie gerade damit erst an? Die Zukunft wird zeigen, inwieweit die Entscheidung nachfolgende Generationen noch auf die Füße fällt.
  5. Ungeklärte Situation in der Innenstadt: Das Rathaus in der Innenstadt wäre eine Chance gewesen, in der Stadtmitte einen attraktiven Treff- und Anziehungspunkt für die Innenstadt zu schaffen. Der Einzelhandel braucht die Innenstadt nicht unbedingt. Er kann und wird sich attraktivere Standorte suchen oder sich auf den Onlinehandel verlegen. Aber die Stadt braucht die Innenstadt! Ein paar Blumenkübel hier und da, ein paar zusätzliche Bänke und eine begrünte Hallenbadwand werden es nicht reißen. Noch mehr Veranstaltungen und Aktionen sind super, aber eben nur ein Strohfeuer. Das gibt zwar kurz ein wohliges Gefühl, das Geld dafür ist dann aber auch schnell verbrannt.
  6. Die Stadtwerke kaufen, die Stadt mietet: Das ist ein „ganz toller“ Schachzug der Verantwortlichen, denn so steigen die Schulden der Stadt nicht. Leider eine Milchmädchenrechnung, denn die Stadt wird das Haus inklusive der Finanzierungskosten über die Miete trotzdem bezahlen. Abgesehen davon geht es auf die Kosten der Finanzkraft der Stadtwerke, die eigentlich noch so nebenbei eine Energiewende zu stemmen hätten.
  7. Vorbildlich: Die Stadt war die letzten Jahre sehr stolz auf den Titel Brundtlandstadt. Ein Titel für Energiesparen und nachhaltige Stadtentwicklung. Ist das vorbildlich und zukunftsgerecht nun mit einem Haus leben zu müssen, was von Zeitpunkt des Kaufs technisch schon veraltet ist? Das die ursprünglich erarbeiteten Kriterien nicht erfüllt und so viele Fragen offen lässt? Warum sollen andere klimagerecht, innovativ und energiesparend bauen, wenn es die Stadt selbst nicht tut? Mit dem neuen Rathaus setzt die Stadt jegliche Legitimation aufs Spiel, sich in die Belange der Bürger in Klimafragen einzumischen.

 

Konzeptionell bleibt vieles also nach wie vor ungeklärt und wenn eine Diskussion tatsächlich stattfinden sollte, dann wohl eher hinter verschlossenen Türen. Vielleicht will man uns als Zivilgesellschaft mit einem tollen Konzept überraschen? Es ist ja bald Weihnachten.

 

Bezogen auf Preis und Nachhaltigkeitsgedanken kann man nur raten, den Blick über die Grenzen der Stadt (und des eigenen Denkens) hinaus zu richten. Nach Darmstadt zum Beispiel und auf den neuen Campus der Firma Alnatura. Mit natürlichen Baustoffen, einem nachhaltigen Energiekonzept (Geothermie!), einen großen Schuss Ästhetik und vielem mehr hat man dort einen Campus für die Unternehmensverwaltung gebaut. Für 1800 Euro pro Quadratmeter. Aber seien wir ehrlich: Ein Kasten aus Beton, Stahl und Glas hätte ja auch nicht zu einer Bio-Supermarktkette gepasst, die sich die Nachhaltigkeit auf die Fahne schreibt.

 

Wolfram Theymann

Links und mehr zur Geschichte des Milchmädchens auf http://lust-auf-viernheim.de

Was ist eine „Milchmädchenrechnung“? Gemäß dem Duden handelt es sich dabei eine auf Trugschlüssen oder Illusionen beruhende Rechnung.

 

https://www.db-bauzeitung.de/architektur/alnatura-campus-in-darmstadt/

 

https://de.wikipedia.org/wiki/Milchm%C3%A4dchenrechnung