Wie Staat und Neoliberalismus einander nähren

Dem Kasseler Soziologen Heinz Bude zufolge „wächst durch die Corona-Krise wieder das Staatsvertrauen, und die Bedeutung des Neoliberalismus sinkt“.

Der Soziologe stellt hier zwei Thesen auf, die ich für falsch halte.

Staatsvertrauen wächst

Erstens wachse das Staatsvertrauen. Das kann ich in meinem näheren und weiteren Umfeld nicht beobachten. Und wirft man einen Blick auf die Berichterstattung in den alternativen Medien, dann zeigt es sich, dass die Staatsmedien, vorneweg die Tagesschau und die Flaggschiffe der Zeitungslandschaft, die Stimmungslage nicht angemessen wiedergeben. Im Gegenteil, der heimliche Groll auf die freiheitsbeschränkenden Maßnahmen auf dem Rechtsverordnungsweg des Gesundheitsministeriums nimmt zu. Es darf also bezweifelt werden, dass das Staatsvertrauen zunimmt.

Es muss auch bezweifelt werden, ob das, was Bude unter Staatsvertrauen versteht, das Verhältnis des Bürgers zu seinem Staat überhaupt trifft. „Der Staat ist zurück“, sagt Bude, „ein Staat, der auf solidarischer Einsicht beruht.“ Nicht ein autoritärer Staat, nicht ein patrimonialer Staat, so Bude. Wenn tatsächlich eine Orientierung der Bürger auf den Staat vorliegt – was auch ich glaube –, dann beruht deren „Vertrauen“ nicht auf „solidarischer Einsicht“. Nicht auf „Einsicht“, denn wer die Coronapolitik bestimmt – das sieht der Bürger tagtäglich –, das sind zwei Gesundheitsinstitutionen (nur zwei!) und eine Regierung, die nichts anderes tut, als deren Vorgaben mit einem Basta zu folgen. Damit der Bürger aus Einsicht seinem Staat folgen könnte, müsste die Bevölkerung Entscheidungen präsentiert bekommen, die aus einer kontroversen Diskussion von Experten der unterschiedlichsten Denkrichtungen erwachsen sind. Und der Bevölkerung müssten die Entscheidungen transparent vermittelt werden! Stattdessen wird vom Staat verordnet. Und es wird ganz offensichtlich auf Panikmache und Angst gesetzt.

Der Staat ist also, wenn er tatsächlich zurück sein sollte, wieder da als autoritärer und patrimonialer Staat!

Der Neoliberalismus wird bedeutungslos

Noch falscher als Budes erste These ist seine zweite, der Neoliberalismus verliere an Bedeutung, da das Staatsvertrauen wachse!

Das Gegenteil trifft zu: Es besteht kein Widerspruch zwischen Neoliberalismus und Staatsbezogenheit bzw. größerem Gewicht des Staates in der Gesellschaft. Viel mehr: Neoliberalismus und autoritärer Staat sind ohne Weiteres miteinander vereinbar! Eines der schlagendsten Beispiele für deren Vereinbarkeit: Chile unter dem Diktator Pinochet. Es war gerade der Militärputsch unter Pinochet 1973, der dem neoliberalen Marktradikalismus sein bedeutendstes Experimentierfeld schuf. Aus den USA strömten die jungen Ökonomen der milton-friedmanschen Schule nach Chile, die die chaotischen Zustände dort für ihre brutale marktliberale Schocktherapie nutzten.

Seit dem Zerfall der Sowjetunion 1991 schreitet der neoliberale Marktradikalismus mit seinen drei Säulen Deregulierung, Privatisierung und Zurückfahren des Sozialstaats ungebremst bis heute voran. Und mit der Coronakrise hat sich an diesen strukturellen Vorgaben der Gesellschaft gar nichts verändert. Ein kleines Symptom dafür: Keine Partei kommt auf die Idee, die Maskenproduktion gemeinnützig zu organisieren, also diese Produktionsbranche zu enteignen. Das Grundgesetz würde das erlauben, geht es doch um das Allgemeinwohl. Und das Allgemeinwohl verlangt eine schnelle und kostenlose Versorgung mit dem Nase-Mund-Schutz. Aber bei uns herrscht weiterhin das neoliberale Regime mit dem absoluten Tabu: Privatisierung der Wirtschaft hat höchste Priorität.

Es ist also unbegreiflich, woran Herr Bude sieht, dass die Bedeutung des Neoliberalismus sinke. Eher bietet die Coronakrise den wirtschaftlich Mächtigen und dem Finanzsektor die besten Möglichkeiten, den Neoliberalismus zu intensivieren durch Monopolisierung, Zerschlagung der Klein- und mittelständischen Betriebe und vor allem durch die Disziplinierung der Arbeitskräfte und ihrer gewerkschaftlichen Organisationsinstrumente.

 

Bernd Lukoschik