Viernheim (Dr. Henrik Stülpner) – Nach der Abstimmung über den Gesetzentwurf zur Widerspruchslösung im deutschen Bundestag am vergangenen Donnerstag (23.1.2020) herrschte in unserer Familie Wut und große Enttäuschung. Unsere 17- jährige Tochter musste weinen und versteht die Welt nicht mehr. „Ist es nicht gerechtfertigt den vielen wartenden Patienten eine größere Chance auf ein lebensrettendes Organ zu geben, als Unentschlossene nicht zu einer dokumentierten Entscheidung zu zwingen?“ fragt sie mich.  Seit Jahren setzen wir uns in der Familie mit dem Thema Organspende auseinander. Wir kennen die Angst vor Organversagen, das Hoffen auf ein Spenderorgan, das vergebliche Warten, die Belastung einerDialyse,dieEntscheidungsfindung für eine Lebendspende und die glückliche Entwicklung nach erfolgreicher Nierentransplantation. Wir hatten gehofft, das die Widerspruchslösung im Bundestag angenommen und das Abstimmungsergebnis den Umfragen in der Bevölkerung entsprechen würde. Laut ZDF- Politbarometer sind nämlich über 60% der Deutschen grundsätzlich dafür, dass jeder nach dem Tod automatisch Organspender wird, wenn er nicht ausdrücklich widersprochen hat.

Bisher sind Organentnahmen nur bei ausdrücklich erklärtem JA zulässig. Mit der nun beschlossenen Zustimmungslösung wird sich meiner Meinung nach in naher Zukunft nicht viel ändern und es wird dabei bleiben, dass täglich drei Menschen sterben müssen, weil sie kein Spenderorgan bekommen (Focus online). Der Mangel an Spenderorganen ist in Deutschland besorgniserregend.

Die AFD stimmte dagegen, weil sie einen staatlichen Eingriff in die persönliche Freiheit befürchtet. Auch die Fraktionen von FDP, Union und die Linke taten sich schwer mit einer klaren Aussage.

Die Grünen im Bundestag, die sonst so sehr auf Mitgliederbefragungen setzen, die in Sachen Umwelt- und Klimaschutz immer wieder bereit sind, individuellen Freiheiten Grenzen zu setzen, halten einen aktiv notwendigen Widerspruch gegen eine Organspende entgegen der von ihnen formulierten Zustimmungslösung, für einen „inakzeptablen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper“. Bemerkenswert ist jedoch, dass sich 72% der Anhänger der Grünen und 73% der FDP- Anhänger in Umfragen im Politbarometer für eine Widerspruchslösung ausgesprochen haben. Insgesamt wurde demnach im Bundestag, wie so oft, nicht dem Willen der deutschen Bürger und Bürgerinnen entsprochen.

Noch einmal zur Erinnerung und zur Erklärung: Nach dem drastischen Tiefpunkt bei der Spendenbereitschaft nach den Transplantationsskandalen in den 2010er Jahren, hat sich die Entwicklung der Spenderbereitschaft nur leicht erholt und stagniert seit 2017. Die wartenden Patienten sind bei Eurotransplant gelistet, dort werden auch die an einem Hirntod verstorbenen Patienten gemeldet. Nur Menschen, die ursächlich an einem Hirntod sterben, kommen in Deutschland überhaupt als Organspender in Frage. Der Hirntod kann durch Schlaganfälle, Aneurysmen oder nach Unfällen eintreten. An Organversagen verstorbene Personen scheiden bei uns in Deutschland als Spender aus. Deutschland muss weit mehr Organe aus Nachbarländern importieren, als es exportiert. Weil in unseren europäischen Nachbarländern größtenteils seit Jahren die Widerspruchslösung gilt gibt es hier sehr viel mehr Spender und die Kultur und Aufklärung um die Organspende ist nicht so ein Tabu- Thema wie bei uns. „Man kann im Tod noch so viel tun für Menschen, die ohne ein Spenderorgan nur noch wenige Monate oder Tage zu leben hätten. Durch eine Zustimmung zur Organspende gibt man im Tod noch anderen Menschen eine Chance auf Leben“, so Dr. Frank Logemann, Transplantationsbeauftragter der Uni-Klinik Hannover, im ARD Fernsehen. Eine Organspende ist eine große Geste und ein Geschenk, das auch manchem Angehörigen bei der Sinnsuche und Trauerarbeit helfen kann.

Wenn jeder von uns der nicht widerspricht, automatisch Organspender wäre, zwingt uns das dazu, sich mit dem Thema aktiver auseinanderzusetzen. Wer nicht spenden will, aus Angst, aus ethischen oder anderen Gründen, kann auch das entscheiden und dokumentieren. Wo ist hier die Selbstbestimmung eingeschränkt? Was ist der Unterschied zwischen aktiv „ja“ oder „nein“ sagen? Das kann wohl nur ein Jurist verstehen.

Mit der nun verabschiedeten Zustimmungsregelung soll ein zentrales Online- Register eingerichtet werden, in der sich Spendenwillige registrieren können. Die Frage muss erlaubt sein, warum es so ein Register nicht schon lange gibt, wo doch Online- Foren für die Jugend und jüngere Mitbürger*Innen ein beliebtes und normales Kommunikationsmittel sind. Warum kann es nicht einen Vermerk auf unseren Versichertenkarte geben? Datenschutz? Die Vorstellung, Informationen zur Organspende von Mitarbeitern der städtischen Behörden zu erhalten, wenn ich alle zehn Jahre einen neuen Personalausweis beantrage ist genauso absurd und wenig effektiv, wie eine empfohlene Beratung durch den Hausarzt oder Infopost von meiner Gesundheitskasse.  

Ich bringe die Enttäuschung unserer Familie über die Entscheidung des Bundestags zum Ausdruck, denn wir  glauben, dass mit der Zustimmungslösung kein Unentschlossener zum Organspender wird und die traurigen Zahlen und Fakten der wartenden und sterbenden Patienten weiter stagnieren. Nicht die lebensrettende Hilfe, sondern die persönliche Entscheidungsfreiheit steht bei der Zustimmungsregelung im Vordergrund. Auf die Spitze getrieben möchte ich fragen, ob dieses Gesetz eine Form der unterlassenen Hilfeleistung mit sich bringt. Ich glaube nicht, dass eine Widerspruchslösung mit dem Recht auf Selbstbestimmung und körperlichen Unversehrtheit kollidieren würde. Nun ist es leider entschieden, wie es ist. Aber ich hoffe die Debatten im Bundestag, Berichte in den Medien und auch unsere persönlichen Erfahrungen regen Sie zu Gesprächen an, sich diesem sensiblen und persönlichen Thema zu stellen.  Das Bemühen eine Widerspruchslösung auch in Deutschland zu etablieren, muss unbedingt weiter verfolgt werden. In unseren Nachbarländern wird sie erfolgreich zum Wohle vieler totgeweihter Patienten praktiziert und die Bevölkerung sieht sich durch diese offensive Organspende- Kultur offensichtlich nicht in ihrer Freiheit eingeschränkt. Warum auch? Man muss nur aktiv seine Entscheidung schriftlich festhalten.  Wer seine Organe nicht spenden möchte, muss es nicht. Auch nicht mit einer Widerspruchslösung. Auf der Tür zum Zimmer eines Arztes unsere Tochter klebt ein Aufkleber mit dem Text „Don’t take your organs to heaven, heaven knows we need them here!” Ja, unter der Erde und im Himmel nutzen uns unsere Organe niemandem mehr.

Ich habe mit großer Aufmerksamkeit das Meinungsbild zum Thema Organspende im VT vom Samstag, den 18.Januar gelesen und mich über überwiegende Zustimmung zur Widerspruchslösung sehr gefreut. Viernheim ist in vielen Bereichen Vorreiter. Sorgen wir dafür dass bald alle Viernheimer einen Organspende- Ausweis besitzen.

In diesem Sinne bitte ich Sie liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, sprechen Sie in Ihren Familien darüber, was Sie beim Thema Organspende empfinden. Können Sie sich vorstellen, für den Fall einem Hirntod zu erliegen, und nur dann, selbst Organspender zu werden und damit Leben über Ihren Tod hinaus zu ermöglichen? Dann halten Sie Ihre Entscheidung schriftlich fest und füllen Sie einen Organspende-Ausweis aus.  Ihre Spendenbereitschaft muss dokumentiert sein!

Informationen, Aufklärungsbroschüren der Deutschen Stiftung Organspende und der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, sowie Organspende- Ausweise erhalten Sie bei Ihren Ärzten, im Rathaus oder im Internet.

Das größte Geschenk: Leben- unsere Tochter Imke musste sterben

Ein angeborener Herzfehler (Mitralklappenprolaps), wurde schon wenige Monate nach der Geburt unserer Tochter festgestellt. 14 Jahre lang konnte Imke ein ganz normales Leben führen. Im Sommer 2013 ergab ein MRT eine schwache Leistung der linken Herzkammer und ein Termin zum Herzkatheter wurde angeraten. Von höchster Dringlichkeit war  zu diesem Zeitpunkt noch keine Rede. Nach der Herzkatheter-Untersuchung Anfang März 2014 stand jedoch fest, Imkes Herz leistet nur noch 20%.

Wir mussten uns in der Familie plötzlich mit  einer Herztransplantation auseinandersetzen. Schon sieben Jahre zuvor war Organspende ein Thema in unserer Familie. 

Unsere jüngere Tochter, mit Zystennieren zur Welt gekommen, musste mit 5 Jahren von einem Tag auf den anderen an die Dialyse. Damals  konnte ich ihr  eine Niere spenden und Wiebke führt seit dem ein normales Leben ohne große Einschränkungen. Meiner großen Tochter konnte ich nicht helfen. Innerhalb von 10 Tagen stand sie auf der Hochdringlichkeitsliste. Ärzte, Familie und Imke selbst glaubten unerschütterlich an ein  lebensrettendes Spenderorgan.

Nach 6 Wochen  mussten wir hilflos mitansehen, wie das Herz unserer glücklichen, lebensfrohen Tochter am 12.Mai 2014 aufgehört hat zu schlagen.

Quelle: PressePortal. de

17.01.2020 Neue Osnabrücker Zeitung

Organspenden:  Patientenbeauftragte der Bundesregierung die CDU Abgeordnete Claudia Schmidtke für Wiedervorlage der Widerspruchslösung

Frau Schmidtke macht den Vorschlag in der nächsten Wahlperiode die sogenannte Widerspruchslösung von Gesundheitsminister Jens Spahn erneut auf die Tagesordnung zu setzen.      „Ich respektiere die heutige Entscheidung, bin aber sehr offen dafür sie in der kommenden Wahlperiode erneut zu debattieren“, sagte sie der Osnabrücker Zeitung. Schmidtke begründete ihren Vorstoß für eine Wiedervorlage damit, dass die jetzt vom Bundestag beschlossene „erweiterte Zustimmungslösung“ keinen nennenswerten Effekt haben werde. „Ich gehe nicht davon aus, dass die Organspende- Zahlen signifikant zunehmen.“ Deshalb müsse Deutschland schon allein wegen der Zugehörigkeit zum internationalen Organspende- Verbund Eurotransplant wirkungsvollerer Maßnahmen einführen.
„Das ist derzeit ein sehr einseitiges Verhältnis: Wir lehnen die Widerspruchsregelung ab, profitieren aber von den Organen, aus den Ländern, die sie eingeführt haben“, sagte Schmidtke.

Es sei daher zu erwarten, dass „in ein, zwei Jahren der Druck aus dem Ausland zunimmt.“ Würde sich Deutschland sich erst heute für eine Aufnahme in den Eurotransplant- Verbund bewerben, „würden wir mit unserer Regelung wahrscheinlich nicht aufgenommen werden“, sagte Schmidtke.

HINTERGRUNDINFORMATION
Acht Gründe, um über Organspende nachzudenken
1. Organspende rettet Leben
Über 120.000 Organe wurden seit 1963 allein in Deutschland transplantiert. Dadurch wurde vielen Patienten das Leben gerettet. Noch fünf Jahre nach der Transplantation
genießen mehr als 70 Prozent der Nierenempfänger ihr „zweites“ Leben.
2. Transplantation ist Erfolgsmedizin
Die Transplantationsmedizin gehört inzwischen zum Standard der gesundheitlichen Versorgung und ist so erfolgreich, dass die gespendeten Organe sogar über Jahrzehnte
hinweg funktionsfähig bleiben können.
3. Ein Spender rettet viele Empfänger
Bis zu sieben Menschen können durch Herz, Lunge, Leber, Nieren, Bauchspeicheldrüse und Dünndarm überleben. Im Durchschnitt schenkt ein Organspender drei
schwerkranken Menschen die Chance auf ein neues Leben.

4. Angehörigen die Entscheidung abnehmen
Im Fall einer möglichen Organspende werden die Hinterbliebenen nach dem mutmaßlichen Willen des Verstorbenen befragt. Dies ist eine schwierige Entscheidung in
einer ohnehin schon schwierigen Situation, die man seinen Angehörigen ersparen kann. Deshalb sollte man zu Lebzeiten seine eigene Entscheidung treffen und auch mitteilen.
5. Die Wahrscheinlichkeit spricht fürs Leben
Organspende geht uns alle an. Jeder von uns kann plötzlich durch eine schwere Krankheit oder einen Unfall in die Situation geraten, auf ein neues Organ angewiesen zu
sein. In dieser Situation wäre sicher jeder dankbar und würde eine Organspende gerne annehmen. Dabei ist die Wahrscheinlichkeit, selbst irgendwann auf eine Organspende
angewiesen zu sein, viel höher, als tatsächlich als Organspender in Frage zu kommen. Nur bei einem sehr geringen Prozentsatz aller Patienten, die in deutschen
Krankenhäusern sterben, kommt es zu einem unumkehrbaren Ausfall der Gesamtfunktion des Gehirns, bevor der Herzstillstand eintritt.
6. Ärzte kämpfen um jedes Leben
Jeder Arzt versucht bis zuletzt alles, um das Leben des ihm anvertrauten Patienten zu retten. Egal, ob dieser Organspender ist oder nicht. Eine Organspende kommt erst in
Betracht, wenn keine Rettung mehr möglich ist und der Tod des Patienten nach den Richtlinien der Bundesärztekammer festgestellt wurde.
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M06-969-FB-015-4, Stand: 19.12.2014
7. Die Würde des Spenders bleibt gewahrt
Der Koordinator der DSO trägt dafür Sorge, dass der Leichnam des Spenders in einem würdigen Zustand übergeben wird. Auf Wunsch können die Angehörigen vor oder nach
der Organentnahme Abschied nehmen.
8. Organspende spendet auch Trost
Organspende kann Trost schenken, so dass aus einem schmerzlichen Verlust neue Hoffnung entsteht. Eine Umfrage der DSO unter Angehörigen zeigte durchweg positive
Ergebnisse: Keiner bereute die Entscheidung ausdrücklich, über 90 Prozent würden wieder so entscheiden und ein Drittel gab sogar an, dass die Organspende eine Hilfe
war, den Verlust eines geliebten Menschen zu verkraften.

Dr. Henrik Stülpner