Viernheim (Stadt Viernheim) – Der 9. und 10. November 1938 waren die Nacht und der anschließende Tag, an dem in Viernheim und in ganz Deutschland jüdische Familien aus unserer Mitte, aus ihrer Lebenswelt und Heimat brutal herausgerissen wurden.

Die jährliche Gedenkstunde zur Pogromnacht ist in Viernheim ein lebendiger Bestandteil der Erinnerungskultur, an der sich seit Jahren in Viernheim auch Organisationen, Religionsgemeinschaften und Einzelpersonen beteiligen. Doch in diesem Jahr erfordert die Verantwortung füreinander aufgrund der Pandemie eine andere Form des Erinnerns. Daher hat sich die Stadt Viernheim gegen eine öffentliche Gedenkveranstaltung entschieden und möchte stattdessen virtuell per Videobotschaft an die Ereignisse vor 82 Jahren erinnern. Der Vorsitzende des jüdischen Kulturvereins, Herr Mykhaylo Kotlyarsky, begrüßt die diesjährige virtuelle Form des Gedenkens. Viele ältere Vereinsmitglieder erleben so trotz Einschränkungen im Zusammenkommen ein kleines Zeichen der Solidarität.

„Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist“ – so lautet die Botschaft von Bürgermeister Matthias Baaß in dem knapp 10-minütigen Video mit dem Titel „Aus unserer Mitte“, der ab dem 9. November auf der städtischen Homepage unter www.viernheim.de bereit steht und alle Bürgerinnen und Bürger einlädt, den Ereignissen der Pogromnacht in diesem Jahr virtuell zu gedenken.

In dem Video spricht zunächst Bürgermeister Matthias die einleitenden Gedenkworte. Es folgen Schilderungen an die Ereignisse dieser Nacht bzw. vom nächsten Tag in Viernheim – Erinnerungen an Schicksale sechs Viernheimer Familien, wie sie das Stadtarchiv Viernheim als Gedächtnis unserer Stadt für die Nachwelt bewahrt.

Inhaltsangabe zum Video

Ansprache von Bürgermeister Matthias Baaß:

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,

die Gedenkstunde zum Tag der reichsweiten Pogrome vom 9./10. November 1938 ist auch in Viernheim Teil einer lebendigen Erinnerungskultur. Ein Gedenken, getragen von unterschiedlichsten gesellschaftlichen Gruppen, von Einzelpersonen und Schülerinnen und Schülern. Stellvertretend für all diese nenne ich den jüdischen Kulturverein und die Projektgruppe ‚Stolpersteine‘.

Auch in Viernheim wurden jüdische Familien brutal aus der Mitte, aus der Nachbarschaft der Dorfgemeinschaft verstoßen. Vorausgegangen waren über 300 Jahre Viernheimer Ortsgeschichte, in denen sie gemeinsam mit ihren christlichen Nachbarn und Freunden lebten. Gemeinsam erduldeten sie Hunger nach Missernten und Verwüstungen durch Kriege, begeisterten sich für die neuen Freiheitsideen von 1848, erlitten die Gräuel des Ersten Weltkriegs und gestalteten die erste deutsche Demokratie von Weimar 1919 mit.

Heute, im Corona-Jahr 2020, erfordert die Verantwortung füreinander eine andere Form des Gedenkens als bisher. Wir müssen auf eine öffentliche Veranstaltung verzichten und haben deshalb den Weg einer Videobotschaft gewählt, um an die Ereignisse vor 82 Jahren zu erinnern.

Die Erinnerung drückt Trauer über das damals verursachte Leid aus wie über die entsetzliche Lücke, die die verfolgten Menschen hinterlassen mussten. Es übersteigt unsere Fantasie, welches Land wir hätten sein können, wenn nicht die Barbarei an die Macht gekommen wäre.

Erinnerungskultur bedeutet für mich auch, die Entwürdigten wieder ins Recht zu setzen. Ihnen wieder einen Platz unter uns, in unseren Erinnerungen einzuräumen.

„Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist.“ Dieser Gedanke bestimmt das Engagement der an der Erinnerungskultur Beteiligten. Hierzu soll auch diese virtuelle Präsentation beitragen.

Die Pogromnacht 1938

Adolf Hitler wurde im Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt. Seitdem hatten er und seine Regierung der jüdischen Bevölkerung immer mehr Rechte genommen. Juden durften zum Beispiel nicht mehr Beamte werden oder als Ärzte und Rechtsanwälte arbeiten, sie waren in Theatern oder Restaurants unerwünscht. Nichtjüdische Deutsche durften jüdische Deutsche nicht heiraten. Jüdische Mitbürger wurden nicht mehr als Deutsche angesehen. Ihre Pässe wurden für ungültig erklärt.

Am 9. November 1938 hielten die Führer der Nationalsozialistischen Partei Hetz-Reden gegen die jüdische Bevölkerung. Spät am Abend rief die Geheime Staatspolizei (Gestapo) zu „Aktionen gegen Juden“ auf. In der Nacht vom 9./10. November 1938 zogen dann in ganz Deutschland Nationalsozialisten und ihre Anhänger durch die Straßen. Sie zündeten Synagogen an und demolierten und plünderten Häuser und Geschäfte von Juden. Viele Menschen wurden getötet, Zehntausende in Konzentrationslager verschleppt. Vielerorts setzten sich die Gewalttaten, wie auch in Viernheim, am 10. November tagsüber fort.

Was ereignete sich in Viernheim? Sechs Schicksale

Hügelstraße 4: Robert und Karolin Weißmann

Robert und seine Frau Karolin fliehen am 10. November 1938 zu ihrer Tochter nach Freiburg. Beide sind um die 70 Jahre alt.

Eine Zeitzeugin erinnert sich:

„Da ich auf der Post arbeitete, sah ich morgens um ½ 6 Uhr das alte Ehepaar Weißmann mit einem kleinen Köfferchen davon gehen. Gegen Mittag schlugen Raudis die Scheiben ihres Hauses ein, voran Sturmbannführer Schneider. Der Lehrer Baldauf kam mit einer Schulklasse. Alles wurde rausgeworfen, demoliert, Betten aufgeschlitzt, ein Topf mit eingelegten Eiern auf die Straße geschmissen.“

Hügelstraße 7 (vormals 5): Heinrich und Rosa Löw

Viernheim-Postkarte um 1900, links die Gotteshäuser der drei in Viernheim vertretenen Konfessionen. Die Wohnung, in der Familie Löw lebte, gehörte zum Gebäude der Synagoge.

In Viernheim wurde die Synagoge am 10. November 1938 zerstört. Der erste Brandstiftungsversuch der SS-Männer am Vormittag misslang. Gegen Mittag brachen sie deshalb gewaltsam die Synagoge auf. Die Eindringlinge trugen die Thorarolle und anderes brennbares Material zusammen, übergossen es mit Benzin und entzündeten ein Feuer. Die Feuerwehr stand bereit, um das Übergreifen auf Nachbargebäude zu verhindern. Dann drangen Viernheimer SS- und SA-Leute in die Wohnräume ein, demolierten sie, transportierten die Einrichtung ab und schleppten Rosa und Heinrich davon.

Luisenstraße 36 (vormals 34): Die Brüder Hugo und Julius Oppenheimer mit ihren Frauen Irma und Frieda

(Plünderung des Geschäfts Oppenheimer am 10. November 1938)

Hugo und Irma verkauften die Konfektionsware, Julius und Frieda die Stoffwaren.

Eine Viernheimerin berichtet:

„Bei Oppenheimers wurde geplündert. Die Leute, die am meisten angeschrieben hatten, haben auch am meisten mitgenommen, ganze Stoffballen. Einzelne haben auch Dreck auf die Juden geworfen.“

Mannheimer Straße 9: Isaak und Frieda Kaufmann

In der Pogromnacht wurde Isaak verhaftet und verschleppt. Während er interniert war, übernachtete eine Freundin und Nachbarin bei seiner Frau, damit diese nicht allein war. Zu dieser Zeit ist Isaak 72 Jahre und Frieda 63 Jahre alt. Isaak kam, wie die anderen Viernheimer jüdischen Männer, in das KZ Dachau.

Rathausstraße 8: Die Geschwister Babette, Willi und Auguste Mayer

  1. November 1938: Lehrer Baldauf ermunterte seine Schüler, sich an den Zerstörungen und Plünderungen zu beteiligen. Er zog mit ihnen durch die Straßen. Sie riefen: „Der Willi Mayer wird herausgeholt, er muss heut‘ dran glauben!“ Mit Prügeln und Hacken schlugen die Jungen das Hoftor, die Fenster und Läden ein. Sie demolierten die Einrichtung und warfen Betten, Kleider und Geschirr auf die Straße. Willi Mayer wurde mit Wasser übergossen und mit Ruß beschmiert.

Spitalstraße 2: Siegried und Erna Weißmann mit Sohn Heinrich

(Heinrich Weißmann mit seiner Mutter, 1936.)

In der Pogromnacht ist Heinrich zwei Jahre alt. Das Haus seiner Eltern wurde angezündet, sein Vater verhaftet. Seine Mutter floh mit ihm im Nachthemd auf die Straße. Ein befreundeter Nachbar ließ sie herein. Es war ja kalt draußen. Einer der Brandstifter sagte zum Nachbarn: „Du kommst auch noch nach Dachau, weil du mit den Juden rum machst“.

Zitat von Martin Niemöller, evangelischer Pfarrer:

„Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist.

Als sie die Gewerkschaftler holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Gewerkschaftler.

Als sie die Juden holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Jude.

Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.“

Martin Niemöller war anfangs ein Befürworter der Nationalsozialisten, später wurde er wegen seines Widerstands gegen das Hitler-Regime mehrfach inhaftiert und 1938 ins KZ Sachsenhausen verschleppt.