Es ist schon ein bisschen grotesk, in der Zeitung zu lesen, dass die Stadt Viernheim nun Modellkommune in Bezug auf die Digitalisierung werden soll. Eigene Erfahrungen zeigen ein ganz anderes Bild. Aber wir haben demnächst Kommunalwahl, alle Bürgermeisterkandidaten und alle Parteien treten mit dem Thema Digitalisierung an – mal mit mehr, mal mit weniger sinnvollen Vorstellungen. Da muss man als Stadt schon mal zeigen, dass man da schon ganz weit ist. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

Nun bin ich Schelm genug und erlaube mir eine Einschätzung der Aktion. Wenn ich den Bericht richtig lese, hat die Stadt die Digitalisierung eines von über 500 einzelnen Verarbeitungsprozessen übernommen: die Vermietung von Bürgerhäusern. Das dürfte der Prozess sein, mit dem der allergrößte Teil der Bevölkerung im ganzen Leben nicht in Kontakt kommt. Aber zugegeben ein wichtiger Prozess, denn er kommt in der Stadtverwaltung vor.

Der Schelm fragt sich aber weiter, wie denn die Vermietung in der Vergangenheit vonstatten ging. Von Hand mit Papierkalender, Karteikärtchen, Ärmelschonern und gespitztem Bleistift? Die Digitalisierung ist ja nicht erst in den letzten Jahren erfunden worden. Gibt es da noch keine Software, die man einfach nutzen kann? Vermutlich ist die Vermietung von Bürgerhäusern sehr viel komplexer als die von Eventlocations, Sporthallen, Seminarzentren, Konferenzhotels und Kongresszentren. Da muss man schon etwas Eigenes entwickeln.

Eigentlich hätte ich wohlwollend unterstellt, dass ein solch einfacher Prozess schon lange mit irgendeiner Software unterstützt wird und das Problem eher die verwaltungs-übergreifenden Prozesse sind. Zum Beispiel die Neubeantragung von Personalausweisen, bei der das Bürgerbüro, die Bundesdruckerei und im Hintergrund das Innenministerium beteiligt sind. Hier einen einfach zu bedienenden Prozess hin zu bekommen, dürfte aufwändiger sein.

Und sich dann hinzustelle und zu verkünden, dass es nicht ausreicht, ein Formular im Internet zum Herunterladen anzubieten und dann die Daten von Hand zu übertragen“, könnte der eine oder andere als blanken Hohn empfinden. Ja, das reicht nicht aus. Aber das ist genau das, was die Stadt seit über 15 Jahren tut.

Im Sozial- und Kulturausschuss im November 2019 wurde den anfragenden Stadtverordneten noch beschieden, dass der Prozess, um den es damals ging, nur mit per Hand ausgefüllten Formular geschehen kann. Im September letzten Jahres hätte ich mir gewünscht, in der Pandemie nicht nur in allen Supermärkten sondern auch im Bürgerbüro bargeldlos bezahlen zu können. Immerhin haben wir Pandemie und bargeldloses Bezahlen ist wegen der Vermeidung von Infektion überall empfohlen. Oder die digitale Gewerbeanmeldung, bei der dann ein Rückruf erfolgt und doch noch weitere Fragen beantwortet werden müssen, da die Digitalisierung des Prozesse nicht alle Fragen erfasst hat. Alles AKTUELLE Beispiele.

Digitalisierung ist wichtig, keine Frage. Dass die Stadt erst jetzt damit anfängt, sich tiefer damit zu befassen ist gut und richtig, aber immer noch ein Trauerspiel. Jetzt aber auch noch mit dem Titel „Modellkommune“ zu werben und damit zu tun, als sei man schon viel weiter, ist unredlich.

Solche Erlebnisse tragen dazu bei, dass Leute nicht mehr zur Wahl gehen. Ich hoffe nur, dass die, die noch gehen, die richtige Einschätzung bezüglich ihrer Kreuzchen vornehmen.

Wolfram Theymann
https://www.lust-auf-viernheim.de