Leserbrief von Michael Kosbau
Pure Aufregung – Zumindest bis zur Wahl
Nun ist es also passiert: Die Union hat einen Entschließungsantrag im Bundestag zur Abstimmung gestellt, ohne sich vorher mit der Bundesregierung ins Benehmen zu setzen. Nein! Das ist doch gar nicht der Punkt, werden manche nun aufgebracht entgegnen. Doch nüchtern betrachtet ist dies zunächst der Sachverhalt. Tatsächlich handelt es sich um einen Antrag, der in der Realität keinerlei unmittelbare Auswirkungen hat, aber den Ton in einer aufgeladenen Debatte setzt. Eine Debatte, die sich nach jahrelangem Leugnen und Versagen nun an einer schrecklichen Einzeltat entzündet hat. Eine Debatte, die lange Zeit unterdrückt wurde, wobei jeder kritische Beitrag rasch als „rechts“ diffamiert wurde und in der aktuell die massive Empörung über das Vorgehen der Union die Empörung über das eigentliche schreckliche Ereignis überlagert, das überhaupt erst zu diesem Antrag geführt hat.
Was bei SPD und Grünen nun für enorme Erregung sorgt – und das ist in Wahlkampfzeiten stets zu vermuten – ist weniger der angebliche „Fall der Brandmauer“, die ohnehin auf kommunaler Ebene, oder bspw. im Thüringer Landtag bereits mehrfach durchbrochen wurde und über deren tatsächlichen Bestand oder Fall ohnehin gestritten werden kann, da jeder eine andere Definition von dieser hat. Es ist nicht klar was „Zusammenarbeit mit der AfD“ konkret bedeutet. Vielmehr ist die Erregung Teil einer politisch motivierten Kampagne – möglicherweise die letzte Chance für SPD und Grüne, mit einer Anti-Union-Strategie das Ruder für die Bundestagswahl herumzureißen. Ob dieser Versuch Erfolg haben wird, bleibt fraglich.
Das liegt vor allem an zwei Dilemmata die diese Inszenierung mit sich bringt:
1.
Die selbstauferlegte Logik der „Parteien der Mitte“, dass die AfD auf keinen Fall stärkste Kraft werden darf und durfte, führt laut aktuellen Umfragen dazu, dass man CDU oder CSU wählen muss, um genau dies zu verhindern. Dieselbe Union, die noch vor Kurzem aus Angst vor „Zufallsmehrheiten“ mit der AfD ausgeschlossen hatte, Anträge einzubringen, die durch die Zustimmung der AfD eine Mehrheit erhalten könnten – nur um dies nun doch zu tun.
2.
Dass der amtierende Bundeskanzler öffentlich sagt und damit wohl auch für „seine SPD“ spricht, dass er kein Vertrauen mehr in Friedrich Merz hat und auch die Grünen wortreich verurteilen was da „geschehen“ ist. Doch was wird nach der Wahl passieren, wenn genau dieser Mann zum Kanzler gewählt werden muss?
Sollte die Empörung über das CDU-Manöver tatsächlich echt sein und nicht bloß als wahltaktisches Kalkül inszeniert, stellt sich die Frage, wie eine Rückkehr zu einer sachlichen politischen Zusammenarbeit in wenigen Wochen möglich sein soll. Wird es dann nach der Wahl keine Zusammenarbeit mit der CDU/CSU geben? Werden sich SPD-Politiker dann im Fraktionssaal festkleben oder den Fahrstuhl blockieren, falls es doch zu einer Großen Koalition kommen sollte und Friedrich Merz´ Wahl zum Kanzler ansteht?
Und was ist mit den Grünen? Sind sie wirklich zutiefst erschüttert und empört über das Manöver der CDU? Werden sie daraus realpolitische Konsequenzen ziehen und künftig wirklich nicht mit Leuten zusammenarbeiten, die mit Rassisten abstimmen wie Robert Habeck es formulierte? Falls ja, wer soll dann regieren? Wird es Schwarz-Blau geben, wie Olaf Scholz
es Merz bereits unterstellt? Oder bleibt am Ende doch alles wie immer, wenn sich das Wahlkampfgetöse gelegt hat und die etablierten Parteien raufen sich – trotz aller Erregung im Wahlkampf – wieder zusammen und teilen sich „in staatspolitischer Verantwortung“ Brot, Leid und Ministerposten? Nach dem zweiten Teil des Dramas gestern im Bundestag scheint dies undenkbar angesichts der Empörung und Hysterie, die während der Debatte herrschten.
Ist die Aufregung über die „gefallene Brandmauer“ nun also echt oder nur ein weiteres Kapitel in politischen Wahlkämpfen? Zweifel sind angebracht. RTL II hat kürzlich die Sendung „X-Faktor: Das Unfassbare“ neu aufgelegt. Dort müssen Zuschauer Realität und Fiktion unterscheiden – mit der Auflösung am Ende der Sendung. Das Problem bei der Bundestagswahl: Die Wahrheit kommt erst nach der Wahl ans Licht.
Wer bereits bei der Wahl ein Zeichen für eine realistische Migrationspolitik setzen will, ohne eine Partei zu wählen, die extreme Rechte in ihren Reihen toleriert und ohne sich eine konservative oder marktradikale Wirtschaftspolitik mit einzukaufen, hat eine Alternative – und diejenigen, die sie suchen, werden sie finden.