Corona, wir und die Demokratie

Nun, im Zusammenhang mit dem Nachdenken über ein Zurückfahren der staatlichen Maßnahmen, ist es also erlaubt, über die „Crux der Zahlen“, die „Berechnung der Reproduktionsrate“, die „dünne Datenlage“, die „Zahl der Infizierten“, die „Sterblichkeitsrate“ usw. nachzudenken und darüber in der Zeitung, so z.B. der Medizinstatistiker Gerd Antes, mit einer gewissen kritischen Einstellung zu schreiben.

Das war vor Kurzem noch anders. Als ich neulich sowohl im Tageblatt als auch auf Viernheim online einfach einen etwas vom Mainstream abweichenden Blick auf die Methodik, die Datendeutung und die Datenermittlung warf, gab es nicht wenige sehr genervte Stimmen. Die einen mahnten an, ich solle doch bitte „Mut und Zuversicht vermitteln“, statt Herrn Dr. Drosten „lächerlich“ zu machen – was ich eben nicht getan habe, denn ich nahm seine Worte zu seiner Berechnungsmethode gerade ernst, indem ich sie betrachtete. Den anderen ging ich schlicht zunehmend „auf den Keks“.  

Ich bin nicht beleidigt, dass heute etablierten und anerkannten Institutionen erlaubt ist, was vor Kurzen verpönt war. Es macht mich vielmehr betroffen, zu sehen, wie der Bürger, wenn es brenzlig wird, im Strom der im Augenblick genehmen Massenmeinung mitfließt, wie wenig Demokratie in seinem Herzen verankert ist.

Ich war, wenn ich vor der Postfiliale in der Schlange wartete, nahezu immer der Einzige, der Mundschutz trug. Ich ging auch so wenig wie möglich hinaus. Kurz: Ich versuchte, den gesetzlichen Vorgaben so weit wie möglich zu folgen.

Daraus folgt aber nicht, dass ich über deren Sinnhaftigkeit und Begründung nicht nachdenken darf bzw. sie nicht infrage stellen darf. Zur Demokratie gehört vielmehr, dass ich darüber nachdenken muss. Dass der Bürger andauernd die Entscheider, die über ihn befinden, beobachten muss. Dass er sich die verschiedenen, oft einander entgegengesetzten Deutungen der Daten, die unterschiedlichen Herangehensweisen ansehen muss. Mehr können nämlich im besten Falle unsere Politiker auch nicht tun (und sehr oft tun dies gerade sie, die über uns entscheiden, nicht, aus Fraktionszwang, aus Zeitmangel, aus einfachem Mitschwimmen; denn Politiker sind auch nur Menschen).

Zur Demokratie gehört ein andauerndes kritisches Verhältnis zu unseren Politikern und zu den Wissenschaftsinstitutionen, die ihnen das Entscheidungsmaterial zur Verfügung stellen, gerade dann, wenn es um so etwas Einschneidendes geht wie die Eingriffe in das Grundgesetz durch das veränderte Infektionsschutzgesetz.

Umso bewundernswerter sind Personen wie die Rechtsanwältin Beate Bahner, die vor dem Verfassungsgericht Klage gegen das Infektionsschutzgesetz eingereicht hat. Wenn auch ihrer Klage nicht stattgegeben wurde, so ist ihr Anliegen doch notwendig gewesen für das Funktionieren von Demokratie: Es muss zu einer herrschenden Meinung immer die Gegenmeinung im Bewusstsein gehalten werden, und zwar ohne diese zu diffamieren. Das hält den Verstand wach und ist notwendige Bedingung dafür, dass sich auf Dauer niemand zum Alleinsiegelverwalter der Wahrheit aufmanteln kann. Denn letztlich wissen wir doch alle nicht, was wahr ist an Theorien. Was uns ja spätestens so gute Wissenschaftstheoretiker wie John Stuart Mill und Paul Feyerabend gelehrt haben. Und nichts als Theorien sind auch die verschiedenen Deutungen der Coronakrise.

 

Bernd Lukoschik