Kurze Geschichte der Übel – Ende der Geschichte: Warn-App   

Übel 1.0

Es begann mit dem Fernseher. Er gibt uns die Segnungen Film und Ton. Und damit sind wir auf das Gleis gesetzt worden, die Wirklichkeit gleichzusetzen mit ihren Abbildern, unsere Auseinandersetzung mit ihr mit einem bloßen Anstarren und das Interesse an der Politik und selbst Politikmachen, wie es sich für den Bürger geziemt, mit dem Konsum der Tagesschau und der Tagesthemen.

Wir machen keine Erfahrungen mehr, die Bilder und Töne stürzen auf uns ein, und wir schlucken nur noch. Gehandelt wird nicht mehr – wenn man einmal von dem Ein- und Ausschalten des Apparats absieht.

Übel 2.0

Dann traten Handy und Smartphone auf den Plan. Jetzt können Dauerberieselung und verzerrtes und erfahrungsfreies Wahrnehmen unserer Umwelt auch außerhalb des Zuhauses stattfinden. Die konkrete Wirklichkeit um uns herum sackt in den Hintergrund ab. Die Beine laufen automatisch. Der Blick haftet am Display. Der Mitmensch wird zum bloßen Hindernis auf dem Gehweg. Handeln reduziert sich auf das Wischen und das Trainieren der Daumenmuskeln. Aber bislang wird der Mitmensch nur als Hindernis registriert …

Übel 3.0

… was sich mit der neuen Corona-Warn-App grundsätzlich ändert. Nun wird eine ganz neue Form des Zwischenmenschlichen geschaffen: der andere nicht nur als Hindernis, sondern als Gegner im Generalverdacht.

Das las ich also zu den Leistungen, die uns die Warn-App bringt:

Der Nutzer wird benachrichtigt, falls eine Begegnung der letzten 14 Tage positiv getestet wurde (ohne Identifikation der Kontaktperson). Und: Der Nutzer lässt sich testen und kann im Falle eines SARS-CoV-2-Nachweises andere Nutzer benachrichtigen.

Klingt alles hygienisch, altruistisch motiviert und hat den Anstrich einer für alle nützlichen Dienstleistung!

Übel 3.0 und seine erste Folge

Ich habe kein Smartphone. Ich will auch keines, erstens weil ich es nicht brauche, zweitens weil ich es für einen völlig überflüssigen technischen Schnickschnack halte, drittens weil es nur bestimmten Industrien und deren Investoren die Kassen füllt, viertens – das wurde bereits oben genannt – weil auf lange Sicht den Nutzern eine neue, verkümmerte Sicht auf die Wirklichkeit und den Mitmenschen antrainiert wird, die allen Seelen schadet.

All diese Einwände werden dem Phoneverweigerer aber nichts nützen, denn die neue App wird ein weiteres Zwangsmittel darstellen – neben dem Anschaffungsmuss, den jede neue Technologie aufgrund ihrer Neuheit darstellt –, sich doch noch demnächst so ein Teil anzuschaffen.

Denn was bringt die neue Warn-App, wenn sie nicht flächendeckend, von jedermann, eingesetzt wird? Wie sollen Infektionsketten aufgespürt werden, wenn dies nicht lückenlos geschieht? Was ist eine Kette mit Löchern zwischendrin statt Kettengliedern wert?

Also wird über kurz oder lang, eher kurz, jeder, der ohne Smartphone herumläuft, als Egoist verunglimpft werden, wie es heute schon ganz selbstverständlich dem geht, der es wagt, ohne Maske ein Geschäft zu betreten! Und wer kann den Status, Egoist zu sein, schon lange aushalten?

Die letzten Tage des Unbephoneten und Netzblindgängers sind also gezählt. Und demnächst wird es keine Ausnahme mehr geben: Alle, ausnahmslos, werden nur noch wie gebannt in ihr Display starren und nach neuesten Neuigkeiten über schädliche Begegnungen in den letzten 14 Tagen Ausschau halten. Womit ich zum schlimmeren Punkt komme.

Übel 3.0 und die zweite Folge

Noch sind Begegnungen eher hoffnungsvoll und werden mit Zuversicht angegangen: Es ist doch immer schön, vielleicht jemandem zu begegnen, der nett ist, mit dem sich ein Schwätzchen halten lässt und woraus vielleicht sogar mehr entspringt.

Die Warn-App wird ein gerüttelt Maß dazu beitragen, diese positive Erwartungshaltung zu zerstören. Begegnungen werden prinzipiell zu Risikobegegnungen werden, der andere ist immer schon eine Gefahr. Wir werden jeden darauf hin abtaxieren, ob er demnächst als Corona-positiv-Signal auf unserem Display auftauchen könnte. Aus Datenschutzgründen werden wir davor bewahrt werden, genau zu wissen, wer der Böse ist. Aber Unwissenheit schützt nicht vor generellem Misstrauenszuwachs.

Übel 3.0 und die dritte Folge

Beim Aufleuchten des eigenen Displays bleibt es aber nicht. Dieses Aufleuchten wird ja nicht nur distanziert registriert. Über dem Ganzen schwebt die Angst, die ganzen 14 Tage über und davor und danach: Mal nachsehen, ob ich in den letzten 14 Tagen infiziert worden bin, ob ich krank bin.

Die Angst, die in den letzten Wochen tief in uns eingebaut wurde – etwa durch so kluge Worte wie die einer sehr einfühlsamen Kanzlerin (20.4.): Wir dürfen uns keine Sekunde lang in Sicherheit wiegen! – , diese Angst wird mit der Wahn-App noch tiefer in uns verankert.

Und gehorsam und voller Angst werden wir natürlich zum Arzt rennen. Ohne erst abzuwarten, ob die Infektion zu Krankheitssymptomen führt. Denn Infiziertsein heißt ja noch lange nicht Kranksein, und Atemwegsprobleme zu haben heißt ja noch lange nicht sterben müssen, zumal solche Probleme ja die verschiedensten Gründe haben können! Aber die Warn-App polt uns auf die eine Ursache ein. Wir haben also nicht nur die Angst als ununterbrochenen Begleiter, wir haben eine beschleunigte Angst. Und sind wir auch nicht coronakrank, so wird uns diese vertiefte Angst krank machen, zumindest einige.

Mit dieser Angst einher geht aber noch etwas viel Schlimmeres. Wer mir Angst macht, ist mein Feind. Und mein Feind ist somit jeder andere. Die Wahn-App stellt jeden anderen unter Generalverdacht, Virenschleuder zu sein und damit böse. Gegen diesen Generalverdacht mögen wir uns vom Kopf her wehren. Aber die Angst ist keine Verstandesangelegenheit, sondern eine der Gefühle. Und gegen dieses Gefühl werden wir auf Dauer nicht ankommen!

 

Bernd Lukoschik