Corona verstehen: Am Anfang ist ein Vor-Urteil, dann folgen die Zahlen

Sehr geehrter Herr Resch,

zunächst möchte ich nur kurz auf einige Anmerkungen von Ihnen reagieren, auf kritische Bemerkungen von Ihnen, die meine Ausführungen zur Statistik betreffen. Aber Sie mögen auch dieses „Zunächst“ überspringen. Entscheidend ist für mich das übernächste Kapitelchen.

Nicht so wichtig: Zahlen und Statistik

Eigentlich halte ich das gar nicht für relevant, wann die Neuinfektionen weniger wurden, wann ein Maximum oder der Wendepunkt der Kurve erreicht wurde, ob und warum Schweden mehr Coronatote zu beklagen hat als die BRD und warum. Dennoch zunächst diese meine Reaktionen auf Ihre Einwendungen:

  1. Zur von Ihnen kritisierten Studie von Ioannidis: Da bitte ich Sie, mir die seine Studie „zerlegenden“ Untersuchungen zu nennen. Meines Wissens ist Ioannidis’ Untersuchung gut. Wobei ich mich vor allem auf Professor Bhakdi stütze (zu diesem Stützen s. u.). Zudem stimmt Ioannidis’ Einschätzung der Gefährlichkeit des Virus mit seiner eigenen Untersuchung des Kreuzfahrtschiffs Princess Diamond überein und wurde von Streeck in seiner Heinsbergstudie wohl annähernd bestätigt.
  2. Zu dem Wendepunkt, also nicht dem Maximum, der Infektionskurve am 4. März: Da verweise ich auf die unter meinem vorangehenden Leserbrief angegebene Quelle, Dirk Gintzels Berechnungen.
  3. Der von Ihnen genannte 3./4. April ist nach den Diagrammen des RKI der Punkt, ab dem die Neuinfektionszahlen zurückgehen. Professor Kuhbandner hat für mich recht plausibel gezeigt (s. die von mir am Ende meines vorangehenden Leserbriefs genannte Untersuchung), dass dieser Zeitpunkt nicht der des Rückgangs der Neuinfektionen sein kann. Denn das RKI identifiziert hier die Meldedaten beim Gesundheitsamt mit dem Datum der Infektionen. Eine Infektion liegt aber um mehrere Tage vor der Meldung, sodass der Punkt, ab dem die Neuinfektionen abnehmen, etwa um den 13./14. März liegen muss, so Kuhbandner, also vor den entscheidenden Lockdown- und Shutdownmaßnahmen. So können Letztere auch nicht die Abnahme der Neuinfektionen verursacht haben. Wie gesagt: Ich fand das überzeugend argumentiert.

Am Beginn des Erkennens: glaubwürdige Personen

Ich könnte nun auf alle weiteren von Ihnen genannten Kritikpunkte an meiner Sicht der Zahlen und Statistiken eingehen. Letztlich würde ich Sie nicht zufriedenstellen, es fehlt mir auch die Sachkompetenz dazu. Darüber hinaus gilt: Zu jeder Studie gibt es nahezu eine Studie, die das glatte Gegenteil mit guten Argumenten nennen kann. Es ist wie immer: Was wahr ist, wird die Zukunft vielleicht irgendwann zeigen. Wie es etwa bei der Schweingrippe der Fall war.

Zahlen und Statistiken scheinen mir aber sowieso zweitrangig zu sein. Weil jeder von uns – und so, glaube ich, funktioniert Erkennen – von einer Vorüberzeugung, was richtig und was falsch ist, von einer Vordeutung des Erkenntnisgegenstands ausgeht, also von einem Vor-Urteil. Und durch die Brille dieser Vor-Urteile liest und deutet man dann die Zahlen und Statistiken. (Dieses Verhältnis von Vor-Urteil und Empirie bzw. Zahlenmaterial lässt sich übrigens sehr gut bei der Entstehungsgeschichte der galileischen Physik und der der Relativitätstheorie beobachten.)

Woher kommen dann die Vordeutungen?

Meine These: Es sind vertrauenswürdige Personen, die am Beginn einer Überzeugung stehen. Diese geben mir ihr Verständnis gewissermaßen als Vor-Urteil mit.

Es hat mich von vornherein skeptisch gestimmt, dass wiederum Dr. Drosten die Deutungshoheit in Sachen Corona übernommen hat. Das, obwohl seine Prognosen damals 2009 bei der Schweinegrippe voll danebenlagen, das, obwohl er damals schon mit seinen Impfempfehlungen nur zur Verschwendung von Steuergeldern beigetragen hat. Dasselbe mit dem RKI mit seinen Prophezeiungen von Unmengen Toten. RKI und Charité hatten beileibe nicht mit ihrer Politikberatung geglänzt. Ich habe diesen Leuten nicht mehr getraut.

Ebenso ging es mir mit den Leitmedien, deren laxem Umgang mit Bildern und Meldungen bereits in der Berichterstattung zu Assad, Putin, Klimawandel. Die Medien haben sich zu Sprachrohren der Exekutive gemausert. Das ist nicht ihre Aufgabe. Also traue ich auch ihnen nicht mehr.

Dr. Drosten und Dr. Wieler, die Leitmedien und auch ein Nichtmediziner wie Herr Spahn erschienen mir also nicht vertrauenswürdig. Ich sah mich also nach Leuten um, die Kompetenz bewiesen hatten und Vertrauen erweckten und die auch keinerlei Nutzen von ihren Stellungnahmen haben, im Gegenteil, die an die Öffentlichkeit zu treten eher nervt und von ihnen Wichtigerem abhält. Zum Beispiel den praktischen Arzt Dr. Wolfgang Wodarg, schon 2009 bei der Aufklärung der „Profiteure der Angst“, der Pharmakonzerne, im europäischen Seuchenausschuss führend tätig, oder Professor Bhakdi, der, emeritiert, wirklich keine Anhaltspunkte dafür lieferte, er könnte aus seiner Positionierung einen Vorteil ziehen: Er war vom Erschrecken über den Demokratieabbau in der BRD motiviert. Ich fand deren Argumente und Gedankengänge plausibel und deren Haltung beim Vortrag ansprechend. Und dann folgte ich deren Tipps, zum Beispiel Dr. Bhakdis Tipp, mal über Ioannidis nachzulesen. Von diesem kam ich dann zu Professor Kuhbandners Analyse der Infektionskurven.

Oder ich sah mir die Interviews mit Dr. Köhnlein und Dr. Ernst Zimmer an, praktische Ärzte, die nicht über Statistiken die Folgen von Viren auf Menschen kennen, sondern im direkten Umgang mit ihren Patienten. Und auch in Bezug auf sie folgte ich Lektüretipps; etwa Dr. Köhnleins „Der Viruswahn“. So bildete sich um diese Personen herum ein Netz aus Literatur, Fachartikeln usw., alles gewissermaßen geleitet von deren Verständnis der Materie.

Ich glaube, so entsteht sehr oft so etwas wie Erkennen, zumindest bei jemandem, der in einem Fachgebiet nur Laie ist.

Quasi biblisch ausgedrückt: Am Anfang war ein Glaubwürdiger, dann kamen die Zahlen. Zahlen können nicht aus sich heraus die Deutung liefern. Oder nach Karl Popper: Am Anfang ist die Theorie, ihr folgt die Auseinandersetzung mit der Empirie.

Die Auseinandersetzung mit den genannten Personen legte mir die These nahe, dass das Coronavirus kein Killervirus ist. Das ist die einhellige Position der genannten Ärzte. Auch die Untersuchungen von Ioannidis, Streeck und Püschel legen das nahe.

Auch Sie scheinen das übrigens so zu sehen. Sie schreiben: „Wie gefährlich das Virus letztlich wirkt, hängt nach allen bisherigen Informationen von der grundsätzlichen Gesundheit der Infizierten, ebenso vom Gesundheitssystem, dem Wohlstand eines Landes bzw. der Bevölkerung ab.“ Womit Sie die Gefährlichkeit des Virus noch von vielen anderen Faktoren abhängig sehen als vom Virus isoliert für sich. Es handelt sich also bei der Coronaepidemie um keine Seuche wie etwa die Pest, die Cholera, die Tollwut.

Konsequenz fürs politische Handeln

Das scheint mir aber der entscheidende Ausgangspunkt für den Umgang mit der Epidemie zu sein. Denn wenn Corona kein Killervirus ist, dann ergibt sich hinsichtlich des Umgangs damit eine besondere Folge: Die Politik muss abwägen. Sie darf nicht mehr nur die Virusauswirkungen im Blick behalten. Ihr Leitfaden darf nicht mehr einzig sein, das Virus auszurotten, sondern sie muss sich auch darüber Gedanken machen, ob die Gegenmaßnahmen nicht möglicherweise mehr Schaden erzeugen werden, als von dem Virus ausgehen. Das klingt hart – für die vom Virus Betroffenen. Aber die Politik kommt an dieser Güterabwägung nicht vorbei! Die Politik muss zugunsten anderer, um diese nicht durch Anticoronamaßnahmen psychisch und physisch zu schädigen, das Risiko eingehen, dass es mehr Coronatote, etwa bei den Risikogruppen, gibt, wie es ja anscheinend in Schweden der Fall zu sein scheint. (Wobei ja überhaupt noch nicht geklärt ist, was es heißt, an Corona gestorben zu sein, wann jemand mit oder an Corona verstorben ist!)

Da zeigt sich das Hauptversagen der Regierung: Das Beraterteam hätte mit noch anderen Medizinern als nur Epidemiologen ausgestattet werden müssen, zudem mit Psychologen, Soziologen, Psychiatern, Ökonomen und nicht zuletzt Theologen. Denn die Folgen angedachter Gegenmaßnahmen hätte das Hinzuziehen solcher Experten nötig gemacht. So kann das Verbot von Gottesdiensten zum Verlust der seelischen Gesundheit führen – für viele in unserer seelen- und transzendenzlosen Gesellschaft ein kaum noch nachvollziehbarer Gedanke.

Zusammenfassung

Erstens: Ich glaube, der Umgang mit Zahlen und Statistiken ist zweitrangig. Daher halte ich auch die tagtäglichen Nennungen von Infizierten-, Genesenen- und Verstorbenenzahlen für überflüssig, ja unseriös, weil durch sie nichts verstanden wird, sondern nur Ängste geschürt werden. Durch ebendiesen Zahlenfetischismus wurden meine Einschätzung der Medien als Regierungsverlautbarungen und mein oben erwähntes Misstrauen nur weiter befördert.

Zweitens: Ich glaube, man versteht und erkennt dadurch, dass man den Erkenntnisspuren vertrauenerweckender Experten folgt. Und diese Vor-Urteile sucht man dann in Statistiken wiederzufinden. Was ja nicht heißt, dass man von diesen Vor-Urteilen nicht abrückt, wenn alle Zahlenmaterialien dagegensprechen. Aber so weit sind wir mit den Thesen eines Köhnlein, Bhakdi, Wodarg längst nicht. Meiner Sicht der Dinge nach ist das Gegenteil der Fall.

Drittens: Ich gehe daher davon aus, dass das Coronavirus vielleicht ein gefährlicheres Virus als das Influenzavirus ist, aber kein Killervirus, keine Seuchenursache.

Viertens: Von daher erwarte ich von einer Politik abwägende Entscheidungen, womit die Politik jetzt anscheinend beginnt: Sie geht Risiken hinsichtlich neuer Infektionen ein, indem sie die Lockdown- und Shutdownmaßnahmen langsam zurücknimmt. Die Politik hätte aber meiner Meinung nach schon viel früher auf die Stufe des Abwägens umschalten sollen.

 

Bernd Lukoschik