Interkulturelle Vermittlung in Viernheim: Ehrenamtliche bauen Brücken zwischen den Kulturen
Verein Lernmobil und Stadt Viernheim zertifizieren vier neue Integrationslotsinnen
Viernheim (Stadt Viernheim) – Die Stadt Viernheim ist um vier weitere interkulturelle Vermittlerinnen reicher: Laila Hourri, Wafaa Almousa Alkhalaf, Masoomeh Fadaie und Haifa Osman sind nach erfolgreicher Prüfung offiziell zu Integrationslotsinnen ernannt worden. Das Zertifikat erhielten die vier Frauen am vergangenen Donnerstag (9. Dezember) aus den Händen von Bürgermeister Matthias Baaß, der Geschäftsführung Dr. Brigitta Eckert des Vereins Lernmobil e. V. und Beáta Gergeley, zuständige Abteilungsleiterin des Projektträgers Lernmobil sowie Andrea Ewert, die als Verantwortliche beim Haupt- und Rechtsamt der Stadtverwaltung im Rahmen der Viernheimer Vielfalts- und Integrationsstrategie die Zertifizierung gemeinsam mit dem Verein abnimmt.
Es sei immer wieder schön zu sehen, wenn sich Menschen für andere einsetzen, so Bürgermeister Matthias Baaß, der sich über die erfolgreiche Weiterqualifizierung freute und sich bei der Zertifikatsübergabe für das Engagement der Teilnehmerinnen bedankte: „Sie sind eine große Bereicherung für unser Gemeinwesen, denn mit Ihrem persönlichen Erfahrungsschatz und kulturellen Hintergrund helfen Sie anderen Menschen dabei, sich in unserer Stadt zurechtzufinden,“ so das Stadtoberhaupt.
Denn der Weg zu einer Behörde oder auf ein Amt kann manchmal ganz schön beschwerlich sein. Erst recht, wenn Menschen aus dem Ausland nach Deutschland zugewandert sind und der deutschen Sprache noch nicht ganz mächtig sind. Die Integrationslotsinnen und -lotsen, die selbst einmal nach Viernheim zugewandert waren, verstehen sich als Vermittelnde zwischen Menschen mit Migrationshintergrund und offiziellen Stellen in den Kommunen. Sie setzen ihre persönlichen Erfahrungen und ihre Sprachkompetenz dafür ein, den Zugewanderten eine Brücke in die Gesellschaft zu bauen. Durch die Lotsinnen wird die Arbeit von Einrichtungen, in denen sie tätig sind, wesentlich effizienter, da es keine Sprachprobleme
gibt. Vorbereitet auf diese Aufgabe werden die Lotsinnen und Lotsen im Rahmen einer halbjährigen Ausbildung beim Verein Lernmobil e. V. In Viernheim sind mittlerweile 28 Integrationslotsinnen an fünf Anlaufstellen tätig. Neben Deutsch werden folgende weitere Sprachen gesprochen: Arabisch, Bosnisch, Bulgarisch, Dari, Deutsch, Englisch, Griechisch, Italienisch, Jiddisch, Kroatisch, Kurdisch, Moldawisch, Persisch, Polnisch, Rumänisch, Russisch, Serbisch, Somalisch, Spanisch, Türkisch und Ungarisch.
„Die Integrationslotsinnen und -lotsen sind aus Viernheim nicht mehr wegzudenken und können sich gut in andere hineinversetzen, was sehr dabei hilft, die Lage und Probleme von Migrantinnen und Migranten zu verstehen“, betont Dr. Brigitta Eckert. Gerade in Zeiten der Pandemie seien die Lotsinnen sehr gefragt und übersetzen für die städtischen Ämter viele Papiere. „Gleichzeitig haben sie Menschen motiviert, sich impfen zu lassen“, berichtet Eckert.
Die Arbeit im Verein Lernmobil e. V. sei auch immer wieder eine Schatzsuche, beschreibt Eckert die Begegnungen mit den Ehrenamtlichen, deren Fähigkeiten zu Beginn noch im Verborgenen lägen und dann entdeckt würden. „Dies macht die Qualität unserer Arbeit aus“. Und so sei es auch bei den vier neuen Integrationslotsinnen, die mit ihrem vielfältigen Wissen andere Menschen, egal ob frisch zugezogen oder „alteingesessen“, unterstützen und sich selbst dabei noch weiterbilden können.
Laila Hourri kommt aus Marokko und lebt seit 2004 in Viernheim. Sie hat drei Kinder großgezogen und möchte jetzt, wo sie mehr Zeit hat, eine Ausbildung im Gesundheitsbereich beginnen. Masoomeh Fadaie kommt aus dem Iran und war dort als Mathematiklehrerin tätig. Sie hatte sich im Iran aktiv für Frauenrechte eingesetzt und musste aus politischen Gründen das Land verlassen. Sie ist seit 2,5 Jahren in Deutschland. Haifa Osman ist Kurdin, hat vier Kinder und ist aus dem Krieg in Syrien geflohen. Zuvor hatte sie sechs Semester Jura in Syrien studiert und zwei Jahre als Lehrerin gearbeitet. Ihre Kenntnisse aus dem Jurastudium wird sie jetzt auch in ihrer Tätigkeit als Lotsin einsetzen, sei es im Rathaus oder beim Jobcenter. Sobald es möglich ist, möchte sie eine Apothekenhelferinnenausbildung machen, um gemeinsam mit ihrer Tochter, die Pharmazie studieren will, eine Apotheke zu führen. Wafaa Almousa Alkhalaf kam 2015 nach Viernheim und ist mit ihrem Mann und ihren Kindern ebenfalls aus dem Krieg in Syrien geflohen. Sie hat sieben Kinder und besitzt große Kompetenzen im Bereich Kindergärten und Schulen. Ihr Ziel ist es, eine duale Erzieherinnenausbildung zu absolvieren.
Die Hoffnung der vier Frauen, dass ihr Engagement für andere Zugewanderten auch ihnen selbst weiterhilft, scheint durchaus begründet: „Die Tätigkeit als Integrationslotsin bzw. -lotse war schon für viele das Sprungbrett in die berufliche Zukunft“, bestätigt Beáta Gergely. Sie selbst kam 2013 mit ihrer Familie aus Ungarn nach Viernheim und absolvierte im Jahr 2016 im Lernmobil e. V. die Weiterbildung zur Integrationslotsin. Seit März 2021 leitet sie nun die Abteilung der Integrationslotsen im Verein.
Tätigkeitsfelder der Integrationslotsinnen in Viernheim
Seit 2007 gibt es Integrationslotsinnen und -lotsen in Viernheim. Das Aufgabenfeld ist vielseitig und hat sich in den vergangenen Jahren stetig erweitert. Die 28 Lotsinnen (derzeit alles Frauen) sind mittlerweile in allen wichtigen Behörden und Institutionen anzutreffen: In den Schulen, im Rathaus, im Jobcenter, in der Baugenossenschaft sowie im „Support Office“, ein Büro in einem Waggon am Treff im Bahnhof (TiB). Pandemie bedingt sind die Anlaufstellen in der Baugenossenschaft und den Schulen derzeit geschlossen, es wurden dafür Telefonsprechstunden eingerichtet.
Die Lotsinnen sind eng verzahnt mit den Mitarbeitenden vieler Behörden und besitzen daher einen großen Wissensschatz, egal ob es sich um Anträge beim Jugendamt, Jobcenter, bei der Familienkasse, der Rentenstelle oder der Krankenkassen handelt. Auch bei Fragen zur Corona-Impfung oder den neuen Regeln können die Vermittlerinnen weiterhelfen. Des Weiteren unterstützen sie beim Ausfüllen sämtlicher Anträge, wie zum Beispiel beim Kindergeld, Wohngeld, Arbeitslosengeld I und II, Grundsicherung und Rente oder Sozialgeld. Bei Bedarf begleiten und übersetzen die Lotsinnen auch bei Terminen, zum Beispiel beim Arzt, zur Bank, zur Ausländerbehörde oder im Bürgerbüro.
Für die Tätigkeit erhalten die Lotsinnen eine Aufwandsentschädigung. Die Ausbildung zur Integrationslotsin/zum Integrationslotsen ist kostenlos und umfasst 7 Module, die jeweils an einem Samstag stattfinden, sowie zusätzlich ein zwanzigstündiges Praktikum. Themen der Ausbildung sind: Reflektion der eigenen Biographie, Kommunikation und Interkulturelle Kommunikation, Ehrenamt, Chancen und Grenzen im Ehrenamt, Werte und Haltungen, Antidiskriminierung, Reflektion des Praktikums. Das Praktikum beinhaltet den Besuch der bereits vorhandenen Anlaufstellen in den jeweiligen Einrichtungen vor Ort. Dort beobachten, fragen und lernen die angehenden Lotsinnen und Lotsen den Ablauf einer Sprechstunde, die Arbeitsweise der Lotsen, den Umgang mit der Bürgerschaft sowie den Mitarbeitenden. Die Ausbildung endet mit einem Abschlusskolloquium.
Weitere Informationen auch unter lernmobil-viernheim.de/pfivv-integrationslotsen.
Das Viernheimer Projekt der Integrationslotsinnen und -lotsen
Das mit dem Namen PfiVV (Projekt für interkulturelle Vermittlung in Viernheim) bezeichnete Projekt ist als Idee im Sozialen Netzwerk in Viernheim entstanden, einem Zusammenschluss von Behörden, Einrichtungen und Beratungsstellen aus dem sozialen Bereich. Ausgangspunkt war die Feststellung vor über 15 Jahren, dass viele Einrichtungen in Viernheim nicht von Menschen mit Migrationshintergrund genutzt wurden bzw. Besuche abgebrochen wurden. So kam die Idee auf, dass Menschen, die selbst nach Viernheim zugewandert waren, Neuzugewanderten bei deren Integrationsprozess behilflich sein können. Dies war die Geburtsstunde der heutigen Integrationslotsen.
Die Idee wurde vom Verein Lernmobil e.V. übernommen und umgesetzt, indem er ein Konzept für die Ausbildung und den späteren Einsatz entwickelte. Die Stadt Viernheim und das Land Hessen schufen mit der Bereitstellung von Finanzmitteln die Voraussetzung für die Realisierung des Projektes. 2014 legte das Land Hessen das WIR-Programm auf, das die landesweiten Projekte der Integrationslotsen berät, vernetzt und auch wissenschaftlich begleitet. So ist ein Kernprofil für die Tätigkeit der Integrationslotsen entwickelt worden.
Das Viernheimer Projekt ist so erfolgreich, dass die Kommunen Bensheim, Lampertheim, Heppenheim, Bürstadt, Biblis, Groß-Rohrheim und Lorsch den Verein Lernmobil auch mit der Ausbildung von Lotsinnen und Lotsen für ihre Gemeinden beauftragt hatten. Kreisweit wurden so über 200 Personen für die interkulturelle Vermittlung ausgebildet. Das Lernmobil ist heute ein Zentrum für Aus- Weiterbildung und Spezialisierung von Lotsinnen und Lotsen in Kooperation mit den Kommunen Viernheim, Lampertheim, Bürstadt, Biblis, Groß-Rohrheim und Heppenheim. So gab es bei der diesjährigen Ausbildung zum/zur Integrationslotsen/Integrationslotsin im Zeitraum Mai bis November 2021 insgesamt 15 Teilnehmende aus den Städten Bürstadt (3), Groß-Rohrheim (1), Lampertheim (3), Heppenheim (4) und Viernheim (4).
In diesem Jahr wurde erstmals ein Speziallehrgang angeboten: Die Weiterbildung zum/zur Gesundheitscoach/in. Insgesamt 35 Teilnehmende aus dem Kreisgebiet nahmen an der Weiterbildung teil. In dieser Weiterbildung wurden den Lotsen medizinische Fachbegriffe wie Informationen zum Gesundheitswesen und Patientenrechte vermittelt, die bei einer Begleitung von Zugewanderten in ein Krankenhaus oder zum Arzt wichtig sind.
Zur Information
Viernheim zählt fast 35.000 Einwohner (Stand 30.6.2021). Darunter befinden sich rund 7.700 Migrantinnen und Migranten aus insgesamt 112 Nationen. Sie machen damit einen Anteil von 22,1 Prozent aus. Die folgenden Nationen sind dabei am häufigsten vertreten: Türkei, Bulgarien, Polen, Italien Rumänien, Syrien, Ungarn, Kroatien und Eritrea.
Das mit dem Namen PfiVV damals bezeichnete Projekt ist eingebettet in die Viernheimer Vielfalts- und Integrationsstrategie der Stadt Viernheim, die am 10.12.2019 einstimmig von der Stadtverordnetenversammlung verabschiedet wurde. Weitere Informationen auch unter viernheim.de/vielfaltundintegration.